Der Waage Monat Oktober

Erich Bauer

Waage – Sommer und Winter begegnen sich

Am 23. September begegnen sich Sommer und Winter, und es beginnt eine Zeit, von der Künstler sagen, sie sei noch schöner als der Wonnemonat Mai. Die Sonne steht schräg und wirft ein Licht, das die Natur verzaubert. Der Blick reicht weit über buntgetönte Wälder und abgeerntete Felder. Die Herbstzeitlose verbreitet ihren süßlichen Duft der Melancholie, und am Abend legt sich Nebel übers Tal, entrückt die Welt in eine andere Wirklichkeit. Der Energiefluss in den Bäumen und Sträuchern wendet sich, zieht sich von den Zweigen und Ästen zurück und fließt erdwärts. Die Welt der Tiere rückt zusammen, bildet Herden und Rudel und zieht in windgeschützte Täler. Die meisten Vögel wandern gemeinsam in den Süden, und Heerscharen von Fischen folgen den wärmeren Strömungen der Meere. Als brächte der nahende Winter den Frieden der Gemeinsamkeit, weichen die auseinanderstrebenden Kräfte in der Natur und schaffen Raum für den Wunsch nach Nähe und Zusammenhalt. Auch die Menschen erahnen den Winter, sie rücken zusammen und genießen das euphorische Gefühl der Gemeinsamkeit. Selbst das größte Herbstfest der Welt, das Münchner Oktoberfest, erweckt bei den Tausenden von Besuchern diesen Rausch der großen Verbrüderung.

Waage – aus der Welt der Dinge

Nach vier Tiersymbolen (Widder, Stier, Krebs, Löwe) und zwei Bildern aus der Welt des Menschen (Zwillinge, Jungfrau) ist die Waage das erste und einzige Tierkreiszeichen aus dem Reich der Gegenstände. An erster Stelle verwendet man eine Waage, um Gleichwertiges miteinander zu vergleichen: einen Zentner Korn mit einem Zentner Zucker. Des Weiteren ist die Waage ein Symbol der Gerechtigkeit: Der Erzengel Michael (Michaelitag) ist der „Seelenwäger beim Jüngsten Gericht“, Justitia hält eine Waage und trägt in der anderen Hand ein Schwert, und der Richter wägt Anklage und Verteidigung ab, hört die Geschworenen und zieht daraus seinen Urteilsspruch. Zum Dritten ist die Waage ein Symbol der Interdependenz aller Dinge. Hebt sich die linke Waagschale, so senkt sich die rechte; legt man etwas auf die eine, muss man immer auch die andere beschweren, wenn das Gleichgewicht nicht verloren gehen soll.

So ist die Waage ein Symbol von Ursache und Wirkung, guten Taten und Lohn, Schuld und Sühne. Beim Jüngsten Gericht wird dem christlichen Mythos zufolge die Seele nach Gut und Böse gewogen. In völligem Gleichgewicht ist die Waage auch ein Ausdruck der Harmonie, ein Spiegel der menschlichen Seele, die sich in Entspannung und innerem Frieden befindet.

 

Waage – Ich und Du im Gleichgewicht

Auf der Ebene der Waage existiert ein wirkliches Du. Was im Zeichen Widder mit aller Kraft ausgebrochen ist, hat ein weiteren Wesen gefunden. Nicht, um mit ihm zu kämpfen (Widder), es auszugrenzen (Stier), mit ihm zu spielen (Zwillinge), es zu fühlen (Krebs), zu beherrschen (Löwe), ihm zu dienen (Jungfrau), sondern um ihm zu begegnen wie einem zweiten, gleichwertigen Ich. Waagegeborene sehnen sich deshalb ihr Lebtag lang nach einem Du. Das ist der Grund, warum Waagen aus sich selbst heraus so unentschieden und wenig spontan sind. Wie sollte es auch anders sein, wo sie doch ihre Entscheidungen immer erst treffen, nachdem sie sich beim anderen rückversichert haben? Eigene Entscheidungen zu treffen, macht für eine Waage eigentlich keinen Sinn. Und mit der Spontaneität ist es doch genauso: Widdergeborene, die können leicht spontan sein, weil sie nur „sich selbst leben“.

Aber wie könnte eine Waage einfach so hoppla, hopp loslegen, wo sie doch immer darauf wartet, dass ihr anderes Ich – und sei es auch nur ein imaginäres – mit ihr kommt? Ist kein wirkliches Du vorhanden, „erfinden“ Waagen eines, und diesem „Phantom“ gegenüber verhalten sie sich genauso wie gegenüber einem richtigen aus Fleisch und Blut. Man könnte beinah sagen, Waagegeborene kommen als siamesische Zwillinge auf die Welt – nur dass ihre Schwester bzw. ihr Bruder unsichtbar ist. Das erklärt auch, warum Waagen so unglaublich viel denken: Dieses Nachsinnen ist ein Gespräch mit dem imaginären Partner (meistens sind es mehr als nur einer). Denken ist so betrachtet ein nach innen verlagertes Beziehungsspiel, das Freund und Feind mit einbezieht.

Waage – die Kunst der Liebe

Waagen sind Beziehungskünstler, und zwar vom ersten Atemzug an. Es ist, als besäßen sie ein Organ, mit Hilfe dessen sie andere erspüren können. Waagekinder wissen genau, was ihrem Papa fehlt und ihre Mama braucht. Wie kleine Engel spüren sie die Wünsche anderer und versuchen, sie zu erfüllen. Waagekinder werden stets in solche Familien hineingeboren, in denen das gegenseitige Verstehen nicht mehr richtig funktioniert. Mit anderen Worten: Wenn zwei Menschen ein Waagekind geschenkt bekommen, ist dies ein Ausdruck dafür, dass sie sich nach jemandem sehnen, der sie wieder miteinander verbindet. „Waage“ ist also ein anderes Wort für „Verbindung“, für „Verstehen“, für „gegenseitigen Respekt“ und – jetzt komme ich zum wichtigsten Wort – für „Liebe“.

Wohlverstanden: Liebe auf der Ebene der Waage ist kein Gefühlsrausch, ist nicht getragen von Leidenschaft. Das alles kann zu einer Partnerschaft gehören, aber es ist nicht das Wesentliche in den Augen der Waagegeborenen. Entscheidend ist, dass sich zwei Menschen in gegenseitigem Respekt anerkennen und achten. Dass jeder den anderen so wichtig nimmt wie sich selbst. Dass keiner etwas tut, ohne sich beim anderen rückversichert zu haben. Das Ich ist also mit dem Du unlösbar verbunden, und trotzdem existiert das eine wie das andere für sich. Es verhält sich wie bei der (richtigen) Waage: Beide Schalen sind miteinander verbunden, und was immer auf der einen Seite geschieht, wirkt sich auf die andere aus – und dennoch existiert jede der beiden Hälften für sich.

Erich Bauer

 

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