Im Bann des Skorpions
Im Bann des Skorpions
Ende Oktober feiert die Natur ihr großartiges Finale. Wie im Mai erglühen die Bäume, aber das tiefe Rot und das stechende Gelb der Blätter verkünden keinen Neubeginn, sondern das Ende. Der leiseste Windhauch genügt, und die Blätter lösen sich vom Baum, tanzen durch die Luft, bis sie raschelnd den Boden berühren. Manchmal legt sich dichter Nebel wie ein nasses Tuch über die Erde und erstickt jeden Laut. Das Lied der Vögel ist verstummt; nur das heißere Krächzen der Krähen bleibt. Zuweilen vergoldet die Sonne das Land und die Natur erstrahlt in einem orgiastischen Farbenrausch. Es ist ein letztes Fest – eine letzte, tiefe Hingabe – ein Liebeslied an den Tod.
Antares
Wer Anfang Juni um Mitternacht in südlicher Richtung in den Himmel blickt, sieht sehr nahe am Horizont ein Gewirr von Lichtern. In der Mitte flackert ein rötlicher Stern. Sein Name ist Antares oder Gegenmars. Die moderne Astronomie hat entdeckt, dass dieser Stern unvorstellbare Dimensionen besitzt. Sein Durchmesser ist dreihundertmal so groß wie jener der Sonne und seine Helligkeit beträgt sogar das zweitausendfache des Sonnenlichtes. Das Sternengebilde um diesen gigantischen Himmelskörper heißt Skorpion. Wer sich lange genug von der faszinierenden Welt der Sterne berühren lässt und sich seiner Fantasie nicht verschließt, erahnt am nächtlichen Himmel vielleicht zwei Krallen und mehrere Beine, einen lang gestreckten Körper mit dem Stern Antares am Kopf und einen weit zurück gebogenen Stachel. Möglicherweise spürt der Betrachter eine Mischung aus Ehrfurcht und Staunen: Er befindet sich einem gigantischen Wesen mit rötlich glühendem Auge gegenüber – er steht im Bann des Skorpiones.
© Erich Bauer